Vorstellung des IZZ



Der Direktor des Institutes für Zukunftspsychologie und Zukunftsmanagement erläutert die ersten Schritte der wissenschaftlichen Arbeit.


Institut für Zukunftspsychologie und Zukunftsmanagement

Die Idee und Notwendigkeit, die Zukunftspsychologie als neue interdisziplinäre Forschungsrichtung aufzubauen und zu etablieren, ergab sich aus den Ergebnissen der „Drei Generationen-Studie“. Unabhängig von der Generationszugehörigkeit dominierte bei allen relevanten Antworten der Befragten eine subjektive, intuitive und emotionale Resonanz und Bewertung. Die bestimmenden Faktoren der Wissensgesellschaft wie Rationalität, Berechenbarkeit und Zahlenlogik spielen in der Lebenswelt der Interviewten eine sekundäre Rolle. Aber auch die emotionalen Perspektiven führen nur selten tatsächlich zu Handlungs- und Veränderungsaktivitäten. Das Vakuum zwischen Einsicht und Umsetzung ist gewaltig.

Vor dem Hintergrund des unausweichlichen Wandels, der durch die demografische und digitale Zäsur hervorgerufen wird, offenbart sich eine gewaltige Schwäche der Prävention, der Antizipation und der Zukunftsgestaltung. In Ermangelung dieser vorausschauenden Handlungskompetenz zeigte sich in der Studie unentwegt eine nachvollziehbare Ignoranz und Verdrängung als Zeichen extremer Wahrnehmungsüberforderung. Der Mensch ist zwar gewillt für sich, seine Familie und seine weiteren Umgebungen Vorsorge zu treiben, aber er weiß immer weniger wie es gemacht werden soll. Gerade bei den Jugendlichen, die die längste Zukunft der Menschheitsgeschichte vor sich haben, ist eine paradoxe Kurzsichtigkeit und Konsumkonzentration vorherrschend.


Diese und viele andere Faktoren zeigten unabweisbar, dass wir in ein Zeitalter der interdisziplinären Psychologie eintreten, da fast alle festgestellten Hemmnisse der Bürger auf psychologische und sozialpsychologische Ursachen zurückzuführen sind. Es ist paradox, dass es eine Fülle hervorragender, wissenschaftlicher und pragmatischer Angebote gibt, sie aber viel zu wenig in Alltag, Wirtschaft und Politik wahrgenommen werden. Dennoch blieb eine Perspektive bisher ohne nachhaltige Auseinandersetzung: Wie agiert, reagiert und navigiert unsere Psyche in Bezug auf relevante Zukunftsfragen. Wie können wir der extremen Beschleunigung, den exponentiellen Herausforderungen, den Schrittmachern der künstlichen Intelligenz, der Möglichkeit eines technikbasierten Bewusstseins usw. psychologisch begegnen und wie können wir eine planbare Vorsorge aufbauen, die trotz Unvorhersehbarkeit und mangelndem Durchblick Orientierung schafft?
Mit diesen Fragen beschäftigt sich das IZZ, um letztlich, nicht nur zu neuen und ständig synchronisierenden Einsichten zu gelangen, sondern um Planbarkeit, Handlungsanstöße, Navigationsunterstützung und Umsetzungsbeispiele zu geben. Einstein hat immer darauf hingewiesen, dass wir ein Problem nicht mit der gleichen Denkweise lösen können, mit der es auch entstanden ist. Dies ist unsere Aufgabe, eine höhere psychologische und zukunftsorientierte Position einzunehmen, um das individuelle und kollektive Spielfeld nicht von der Seitenlinie sondern vom Helikopter aus zu betrachten.

Univ.-Prof. Dr. Thomas Druyen


Gestaltungsebenen der Zukunft

Die demografischen Veränderungen und der wissenschaftlich-technische Fortschritt unserer Gesellschaft geben Anlass dazu, gegenwärtige Zukunftsvorstellungen zu überdenken. Orientierung in den Bereichen Beschäftigung und Altersvorsorge fehlen ebenso wie wegweisende Konzepte im Umgang mit sich verändernden familiären Strukturen und der sinngebenden Gestaltung von durchschnittlich 30 Jahren mehr Lebenszeit. Sind uns individuelle, familiäre und gesellschaftliche Zukunftsfähigkeit wichtig, gilt es Zukunft auf diesen drei Ebenen neu auszurichten.

Begrifflich entstammt Zukunft dem althochdeutschen Wort zuochumft und bezeichnet ursprünglich das auf jemanden Zukommende. Darüber hinaus wurde im Mittelhochdeutschen ein bevorstehendes Herabkommen Gottes damit verbunden, was im Wort Advent (lateinisch Adventus Domini für Ankunft des Herrn) zum Ausdruck kommt. Der emeritierte Professor für Dogmatik Gisbert Greshake schreibt dem Begriff Zukunft in diesem Kontext eine inhaltliche Zweideutigkeit zu – Zukunft als Kommen (adventus) und Zukunft als Werden (futurum). Demnach steht die erstgenannte Bedeutung für Zukunft die nicht vorhersehbar, planbar und machbar ist, zum Beispiel welchen Menschen wir begegnen, ob wir uns verlieben oder wie lange wir leben. Zukunft als Werden hingegen steht für die Entfaltung der Möglichkeiten, welche in einer Person oder Sache von Beginn an angelegt sind. „So wie die Blüte aus dem Samenkorn hervorgeht, so entfaltet sich die Zukunft des Werdens in einem Entwicklungsprozess aus der Vergangenheit heraus.“ Nach Greshake überschneiden sich die beiden Weisen der Zukunft zwar laufend, sind jedoch ihrem Wesen nach grundsätzlich verschieden.


Was die Abfolge der Zeit anbelangt, werden Vergangenheit und Gegenwart von der noch bevorstehenden Zeit abgegrenzt. Dieser bevorstehenden Zeit wird nach Erkenntnissen der Gesellschaftswissenschaften eine elementare Funktion in Bezug auf menschliches Selbstverständnis und Handeln beigemessen. Vor dem Hintergrund vergangener Ereignisse und Erfahrungen vollzieht sich unsere gegenwärtige Lebensgestaltung also maßgeblich im Hinblick auf eine mehr oder weniger wahrscheinliche Zukunft. Sehr verständlich drückt Albert Einstein diesen Sinnzusammenhang mit den Worten aus: „Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.“ Dieser Sichtweise folgend wohnt der Gegenwart ein dynamisches Potenzial inne, das von Veränderung, Hoffnung und Erneuerung, Wünschen, Ängsten und Erwartungen sowie Motivationen und Handlungskonzepten getragen wird.

Zukunftsbilder im Wandel der Zeit

Die Geschichte der Zukunft reicht bis zum Anbeginn menschlicher Kultur zurück. Zutiefst verknüpft mit der kulturellen Entwicklung stehen jegliche Vorstellungen von Zukunft fortwährend in Zusammenhang mit dem vorherrschenden Welt- und Menschenbild. Dabei existieren von jeher Institutionen, die zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu vermitteln suchen. Schamanen in Stammesgesellschaften sahen die Zukunft in Visionen voraus. In den frühen Hochkulturen kam diese Funktion den Hohepriestern zu. Als die ersten komplexen Zukunftsinstitutionen, vermittelten Orakel im antiken Griechenland zwischen göttlichen und weltlichen Instanzen in Zukunfts- und Entscheidungsfragen. Das Orakel von Delphi war 500 Jahre lang eine der mächtigsten Einrichtungen und wahrscheinlich der erste Think Tank überhaupt. Abseits der mystisch-magischen Showbühne agierte „ein gut organisierter Apparat von Informanten und Experten, der mit Hilfe von anscheinend göttlich eingegebenen Vorhersagen Entscheidungen und Entwicklungen bewusst beeinflusste.“

Das Gros der archaischen Kulturen war geprägt durch das ewig wiederkehrende Werden und Vergehen der natürlichen Kreisläufe. Auch im Mittelalter stand ein zyklischer Zukunftsbegriff im Vordergrund, wobei die religiöse Transzendenz die Position einer schicksalsbestimmten Zukunft einnahm. Die Läuterung durch das Fegefeuer, die Wiedergeburt Christi und das Jüngste Gericht standen als zukünftige Ereignisse fest. Ansonsten herrschte die Überzeugung vor, dass sich jegliches irdische Geschehen immerwährend wiederholt. Im Zuge der Renaissance bildete sich ein rationales Zukunftsverständnis heraus, welches als nicht vorherbestimmt, offen und durch den Menschen gestaltbar galt. Dieses Bild von Zukunft war an die Grundidee des Fortschritts gebunden, einer fortschreitenden Verbesserung der Lebensbedingungen durch Wissenschaft und Technik. Die Illustrationen Leonardo da Vincis spiegeln bis heute den utopischen Charakter dieser Zeit wider, in der den herrschenden Missständen ideale Gesellschaftsentwürfe entgegengesetzt wurden. In den späten 1480er Jahren skizzierte da Vinci seine Vision der idealen Stadt. Dieser futuristische Entwurf verlief über zwei Ebenen. Während die obere Ebene als Fußgängerzone gedacht war, sollte die darunterliegende vor allem dem Transport von Wahren dienen. Im Zeitalter der Aufklärung schloss das Denken im Sinne der Vernunft an diese Entwicklung an und definierte die Zukunft endgültig zum Gestaltungsraum. Von aufklärerischen Impulsen beflügelt, beeinflusste die Französische Revolution von 1789 macht- und gesellschaftspolitische Veränderungen in ganz Europa. Neben Menschen- und Bürgerrechtsgarantien sowie Reformen des Bildungswesens, stellten beispielsweise Geschlechtergleichheit und die Hinwendung zu den Naturwissenschaften wesentliche Konzeptionen dieser Epoche dar.

Mit der Industriellen Revolution und dem immensen technologischen Fortschritt trat die Zukunft in der Moderne in den Mittelpunkt des Denkens und ließ sie „zu einer Art unaufhaltbaren Dampfmaschine werden“. Somit entstand zwischen 1870 und 1970 eine zunehmend optimistische Zukunftshaltung, die mit intensiver Mechanisierung einherging. Die Erfindung der Dampfmaschine als Symbol menschlicher Schaffenskraft verdeutlicht die Erwartung durch Wissenschaft, Forschung und Technologie, ein lebenswertes Daseins für alle Menschen zu erreichen. Ein diffuser Zukunftsbegriff kennzeichnete die Ära nach dem Zweiten Weltkrieg. Einem daseinsbedingenden Zukunftspessimismus folgte in der Zeit des Wirtschaftswunders eine Zukunftseuphorie. Diese fand ihren Höhepunkt in den technischen und gesellschaftlichen Errungenschaften der 1960er und ihren Niedergang durch Ölkrise und Rezession der 1970er Jahre. Die Unschärfe des Zukunftsbildes dieser Periode drückt sich zudem in einer enormen Eigendynamik der wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen aus, die zu schwer überschaubaren Verkettungen von Wirtschaft und Politik sowie zu teilweise irreversiblen Umweltschäden mit nicht einschätzbaren Folgen führten. Der seit 1977 beobachtbare globale Abbau der Ozonschicht, durch die Verwendung von Fluorchlor-kohlenwasserstoffen (FCKW) als Treib- und Lösungsmittel, ist ein Beispiel für den Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltzerstörung.

Zur Erfassung des aktuellen Zukunftsbegriffs ist eine Erweiterung des Blickfeldes über die Grenzen Europas hinaus von erheblicher Bedeutung. Unterschiedliche kulturelle Prägungen reichen von einer weitgehenden europäischen Zukunftsskepsis über den, in unruhiges Fahrwasser geratenen, idealistischen Futurismus der USA bis zu Mischungen im Fernen Osten, die sich aus Tradition und linearen Vorstellungen durch technologischen Fortschritt zusammensetzen. Aus dieser Darstellung lässt sich schlussfolgern, dass ein klarer Blick auf das was uns erwartet fehlt, und dass dieser Umstand als charakteristisch für das gegenwärtige Zukunftsbild anzusehen ist. Als kennzeichnende Phänomene unserer Zeit, scheinen Digitale Revolution, Globalisierung und Demographischer Wandel Verunsicherung und Orientierungslosigkeit hervorzurufen sowie diffuse Zukunftängste zu schüren. Der US-amerikanische Erfinder, Autor und technische Entwicklungsleiter von Google, Raymond Kurzweil schrieb 2001: „Die Zukunft wird wesentlich überraschender sein, als den meisten Leuten bewusst ist, da nur wenige die Tatsache verinnerlicht haben, dass die Geschwindigkeit der Veränderung zunimmt.“ In Anbetracht dieses enormen Entwicklungstempos und der hohen Komplexität des aktuellen Zukunftsbegriffs kommt der Vermittlung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine besondere Bedeutung zu. Die Disziplin der Zukunftsforschung sowie Institutionen wie das Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen widmen sich heute dieser Aufgabe.

Zur Entstehung persönlicher Zukunft

Wenn die jedem von uns bevorstehende, zukünftige Zeit erheblichen Einfluss auf unser Handeln und die Gestaltung unseres gegenwärtigen Lebens ausübt, stellen sich die Fragen, wie Zukunft in uns entsteht und was diesen Prozess beeinflusst. In ihrem Buch Die neue Psychologie der Zeit charakterisieren die Psychologen Philip Zimbardo und John Boyd Zukunft als konstruierten Geisteszustand, der ebenso wie die Vergangenheit nie direkt erlebt wird. In vielerlei Hinsicht verbunden mit unserer Psychologie, ist die Zukunft daher Ergebnis unserer Erwartungen und Befürchtungen, unserer Projektionen und Informationsfilter. Zimbardo und Boyd sprechen in diesem Zusammenhang von Rahmenvorstellungen (Zukunfts-Frames), in welchen die Zukunft „gefangen“ ist. Sie gehen davon aus, dass die Zukunft genau wie die Vergangenheit Resultat einer selektiven Wahrnehmung ist, die Ereignisse und Interpretationen zu persönlichen Sinnzusammenhängen verknüpft.

Die Fähigkeit zur mentalen Variation zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird in der Hirnforschung als mentales Zeitreisen bezeichnet. Aktuelle Erkenntnisse verbinden diese Kompetenz mit dem episodischen Gedächtnis, einer Subkomponente des Langzeitgedächtnisses, welches anatomisch im präfrontalen Cortex (Teil des Frontallappens der Großhirnrinde) lokalisiert ist. Das episodische Gedächtnis führt drei Konzepte zusammen – das Selbst, das autonoetische Bewusstsein und die subjektive Zeit. Dabei definiert das Selbst den Menschen als selbstbegründende Handlungsinstanz, als einheitliches Wesen, dessen Empfindungen und Absichten gebündelt in seinem Handeln Ausdruck finden. Die subjektive Zeit bildet die individuelle Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ab. Dem autonoetischen Bewusstsein kommt hinsichtlich des mentalen Zeitreisens eine Schlüsselfunktion zu. Es spiegelt eine spezielle Form der bewussten Wahrnehmung wider, indem es das persönliche Bedeutungsverhältnis zur Zeit repräsentiert – die individuelle Zeitperspektive. Zimbardo und Boyd haben durch ihre Forschungen die Erkenntnis gewonnen, dass die persönliche Zeitperspektive eine fundamentale Rolle im Leben der Menschen einnimmt und demzufolge Denken, Fühlen und Handeln des Einzelnen entscheidend mitbestimmt. „Der Mensch neigt dazu, eine bestimmte Zeitperspektive zu entwickeln und dann zu oft einzusetzen – zum Beispiel eine Orientierung auf die Zukunft, Gegenwart oder Vergangenheit.“ Der Umstand einer weitgehend erlernten persönlichen Beziehung zur Zeit ermöglicht es, die individuelle Zeitperspektive zum eigenen Vorteil zu verändern. Eine stärkere Bewusstmachung dieser Beziehung, ist nach Zimbardo und Boyd ein wesentliches Element, um dieses Veränderungspotenzial freizusetzen.

Ausgangspunkt für das mentale Reisen durch die subjektive Zeit ist die mehr oder weniger bewusste, als sicher angenommene Erkenntnis des Fortbestehens des eigenen Selbst in der Zukunft. Diverse Studien zu mentalem Zeitreisen sind zu dem Ergebnis gelangt, dass bei sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft gerichteten Vorstellungen ähnliche Hirnregionen bzw. neuronale Netzwerke angesprochen werden. Aufgrund dieser Erhebungen liegt die Schlussfolgerung nahe, dass bei der Erstellung von Zukunftsbildern auf Erinnerungen zurückgegriffen wird. Die Sinnhaftigkeit eines derartigen Zusammenhangs von Vergangenheit und Zukunft lässt sich eingängig durch die sprichwörtliche Redensart „In die Zukunft blicken, in der Gegenwart leben und aus der Vergangenheit lernen“ oder über evolutionsbiologische Logik erklären.

Die Individualpsychologie Alfred Adlers gestattet eine tiefenpsychologische Beleuchtung der Verbindung von Vergangenheit und Zukunft über unsere Erinnerungen. Adler kommt zu dem Schluss, dass der Mensch aus einer Vielzahl von Eindrücken ausschließlich jene für seine Erinnerungen auswählt, die in Beziehung zu seiner Situation stehen – „Er wird mit Hilfe vergangener Erlebnisse also so vorbereitet, dass er der Zukunft mit einem schon geprüften Handlungsstil gegenübertritt.“ Die seiner Überzeugung nach kontinuierliche und größtenteils unbewusste Ausrichtung menschlichen Verhaltens auf ein Ziel bezeichnet Adler als unbewusste Fiktion, Lebensstil oder personale Finalität. Ein Mangel an Orientierung gebenden Zielstellungen bildet indes den Nährboden für Neurosen. Demzufolge stellt das vermeintliche Wissen eines Menschen über die eigene Zukunft ein wesentliches Merkmal individueller Handlungsfähigkeit dar, begleitet von Gefühlen der Berechenbarkeit, Kontrollierbarkeit und Sicherheit. Zusammenfassend lassen sich bezogen auf die individuelle Gestaltungsebene mehrere Einflussgrößen zur Entstehung persönlicher Zukunft identifizieren. Neben persönlichkeitsspezifischen Zukunfts-Frames, der individuellen Zeitperspektive in Verbindung mit der Fähigkeit des mentalen Zeitreisens und der Notwendigkeit von Orientierung gebenden Zielstellungen, ist vor allem eine stärkere Bewusstmachung dieser Faktoren entscheidend für individuelle Zukunftsgestaltung.

Zukunft in Gesellschaft und Familie

Die gesellschaftlichen Zukunftsfragen unserer Zeit sind vielfältig. Tiefgreifende demographische Veränderungen ziehen Problemstellungen bezüglich Beschäftigungsverhältnissen, Altersvorsorge und Migration nach sich. Des Weiteren hängen die Entwicklung zur Weltgesellschaft und das globale Gefälle von Reichtum und Armut direkt mit dieser Thematik zusammen. Zusätzliche Problemfelder ergeben sich im Hinblick auf die künftigen technischen Möglichkeiten des digitalen Zeitalters, die daraus erwachsenden verbesserten Lebensbedingungen und die bestehenden Ambivalenz dieses Fortschritts in Anbetracht ökologischer Aspekte.

Im Spannungsraum zwischen vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten und den Grenzen der Belastbarkeit der Erde, scheint der Mensch im Wettlauf mit sich selbst zu stehen. Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Kenneth E. Boulding merkte 1981 dazu an: Das Überleben der Menschheit hängt davon ab, ob sie imstande ist, ihre Denkweise in den nächsten 25 Jahren stärker zu verändern als in den vergangenen 2500 – „If the human race is to survive, it will have to change its ways of thinking more in the next 25 years than in the last 2500.“ Brauchen wir eine Weltregierung und inwieweit sind die Vereinten Nationen ein adäquater Ansatz? Wie viele Menschen können auf der Erde leben, und wie kann ein umweltschonender und ganzheitlicher Umgang mit natürlichen Ressourcen gestaltet werden? Diese und viele andere Fragen machen ein Umdenken im Sinne Bouldings auch im Jahr 2014 zwingend notwendig. Die Zukunftsforschung nähert sich dem besagten Umdenkprozess sowie den genannten Problembereichen aus einem interdisziplinären Blickwinkel. Sie befasst sich mit möglichen, wahrscheinlichen und wünschenswerten Zukunftsentwicklungen. Eine klassische Gliederung der Zukunftsforschung oder Futurologie teilt die Disziplin in die Bereiche Prognosen und Projektionen, Zukunftsgestaltung durch Programmierung und Planung sowie Zukunftsphilosophie ein. Die Tatsache einer noch nie dagewesenen Einbettung menschlichen Handelns in komplexe Wirkzusammenhänge von Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Ökologie muss dabei stets Beachtung finden.

Auf familiärer Ebene spiegeln sich die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen in Hinsicht auf die Zukunft wider. Dies zumindest lässt sich anhand der Studie „Future of Families to 2030“, verfasst von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), ableiten. Anhand der erhobenen Daten lässt sich beispielsweise der Schluss ziehen, dass Migration zu einer Diversifizierung von kulturellen Werten und Familienbildern beiträgt. Zudem haben steigende Lebenserwartung, verlängerte Ausbildungszeiten und die Zunahme an Single-Haushalten Anteil am familiären Strukturwandel und der stufenweisen Auflösung der Kernfamilie. Zur Stützung dieser Hypothesen finden sich in der Studie Aussagen zu gegenwärtigen und zukünftigen Familienstrukturen der OECD-Länder. So leben aktuell ca. 15 Prozent aller Kinder im Haushalt eines alleinerziehenden Elternteils. Jedes zehnte Kind wächst in einer Patchwork-Familie, jedes fünfzehnte bei seinen Großeltern auf. Allein in Österreich wird bis zum Jahr 2030 eine Zunahme an Partnerschaften ohne Kinder um etwa 28 Prozent prognostiziert. Der Anteil an Single-Haushalten wird den vorliegenden Berechnungen zufolge bei ca. 40 Prozent liegen. Konsequenzen einer solchen Zukunftsentwicklung wirken sich in erheblichem Maße auf Bereiche wie Gesundheits- und Altersvorsorge, Beschäftigung, Wohnen und öffentliche Investitionen aus. Schlussfolgernd lässt sich eine intensive Verflechtung familiärer und gesellschaftlicher Strukturen feststellen, welche auf beiden Ebenen die Notwendigkeit für Offenheit gegenüber neuen Denkansätzen und die Bereitschaft zur Anpassung an eintretende Veränderungen aufzeigt. Dazu kann auch an dieser Stelle eine stärkere Bewusstmachung der Gegebenheiten und Zusammenhänge ein erster Schritt in Richtung einer gelingenden Zukunft sein.

Zukunftsfähigkeit und Möglichkeiten der Gestaltung

Die Geschichte der Zukunft führt uns vor Augen, dass sie an sich nicht existent ist, sondern verbunden mit dem Welt- und Menschenbild der jeweiligen Gegenwart immer wieder neu entworfen wird. Zimbardo und Boyd führen diese Erkenntnis auf die Individualebene zurück, indem Sie Zukunft als konstruierten Geisteszustand definieren, der genau wie die Vergangenheit nie direkt erlebt wird, sondern das Ergebnis unserer Wünsche, Ängste, Projektionen und Informationsfilter darstellt. Demnach ist der eigentliche Entstehungsprozess der Zukunft individueller Natur, und die Fähigkeit sie zu gestalten abhängig vom subjektiven Grad der Bewusstheit gegenüber persönlichkeitsspezifischen Zukunfts-Frames, der individuellen Zeitperspektive und den eigenen Zielstellungen. Die Kernkompetenz zur Gestaltung der persönlichen Zukunft liegt also im Verstehen – im Verstehen wie Zukunft ist, wie sie zustande kommt und wie wir sie nutzen können.

Der Psychologe Endel Tulving führt das episodische Gedächtnis als das Gedächtnissystem an, welches durch die Verbindung dreier Konzepte – des Selbst, des autonoetischen Bewusstseins und der subjektiven Zeit – die Fähigkeit zur mentalen Variation zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ermöglicht. Er bezeichnet diese Begabung des Menschen als mentales Zeitreisen, wodurch vergangene Erfahrungen erinnert und mögliche zukünftige Erfahrungen gedacht werden können. Hierbei geht Tulving davon aus, dass bei der Erstellung von Zukunftsbildern auf Erinnerungen beziehungsweise vorangegangene Erfahrungen zurückgegriffen wird. Alfred Adler ist der Überzeugung, dass der Mensch aus einer Vielzahl von Eindrücken ausschließlich diejenigen für seine Erinnerungen auswählt, die sich in seiner Lebenssituation als nutzbringend erweisen. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und den eigenen Ängsten sowie die Auflösung bestehender seelischer Konflikte können demnach die Anzahl der Erinnerungen erhöhen, die bewusst als nützliche Erfahrungen wahrgenommen werden. Dieser Argumentation folgend erhöht sich damit zudem das Spektrum potentieller persönlicher Zukunftsbilder, was mit einer Erweiterung der Gestaltungsmöglichkeiten individueller Zukunft gleichzusetzen ist. Übertragen auf die familiäre und die gesellschaftliche Ebene verkörpert dieser Sinneszusammenhang einen Wegweiser für Zukunftsfähigkeit. Bereits 400 nach Christus stellte Augustinus fest: „Wir sollten die Vergangenheit akzeptierend annehmen, der Zukunft mit Vertrauen begegnen – und wenn sich Vergangenes und Zukünftiges in der Gegenwart versöhnt die Hand reichen, dann können wir unser Leben bewusst und lebendig gestalten.“

Dipl.-Kfm. Univ. Nils Guse, BA. pth.

Schlüsselliteratur
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